»Kindereuthanasie«

Bereits im August 1939, noch vor Beginn der »Aktion T4«, wurde in Deutschland eine amtliche Meldepflicht für Kinder mit geistigen und körperlichen Behinderungen bis zu drei Jahren eingeführt. Als Erfassungs- und Organisationszentrale für die »Kinder-Euthanasie« diente der »Reichsausschuss zur wissenschaftlichen Erfassung erb- und anlagebedingter schwerer Leiden«. In der »Kanzlei des Führers« entstand ein von Viktor Brack geleiteter Gutachterausschuss, dem die Kinderärzte bzw. Psychiater Werner Catel, Hans Heinze (1895–1983) und Ernst Wentzler (1891–1973) angehörten. Er entschied nach Aktenlage über die Einweisung der Säuglinge und Kinder in »Kinderfachabteilungen«, die in Kinderkliniken oder Heil- und Pflegeanstalten eingerichtet wurden. Hier wurden die Mädchen und Jungen nach einer Beobachtungszeit mittels überdosiert verabreichter Beruhigungsmittel oder Nahrungsentzug ermordet.

Die erste dieser »Kinderfachabteilungen« entstand im Juni 1940 in der Landesanstalt Brandenburg-Görden; reichsweit folgten über dreißig weitere solcher Einrichtungen. Von den etwa 20.000 vom »Reichsausschuss« begutachteten Kindern starben bis zu 5.000, unter ihnen Wilhelmine Haußner und Alfred Wödl.

Die »Euthanasie«-Verbrechen an Kindern und Jugendlichen umfassten jedoch nicht nur die Morde in den »Kinderfachabteilungen«. Rund 4.200 minderjährige Patienten psychiatrischer Anstalten wurden im Rahmen der »Aktion T4« vergast, ihre Leichen zum Teil als medizinische Forschungsobjekte missbraucht wie die von Werner B. Eine große Zahl von Kindern und Jugendlichen fiel bis 1945 zudem der dezentralen »Euthanasie« zum Opfer.

Runderlass des Reichsministeriums des Innern zur »Frühzeitigen Erfassung« vom 18. August 1939

(1) Zur Klärung wissenschaftlicher Fragen auf dem Gebiete der angeborenen Mißbildung und der geistigen Unterentwicklung ist eine möglichst frühzeitige Erfassung der einschlägigen Fälle notwendig.
(2) Ich ordne daher an, daß die Hebamme, die bei der Geburt eines Kindes Beistand geleistet hat […], eine Meldung an das […] zuständige Gesundheitsamt […] zu erstatten hat, falls das neugeborene Kind verdächtig ist, mit […] schweren angeborenen Leiden behaftet zu sein. […]
(3) Ferner sind von allen Ärzten zu melden Kinder, die mit […] [solchen] Leiden behaftet sind und das 3. Lebensjahr noch nicht vollendet haben, falls den Ärzten die Kinder in Ausübung ihrer Berufstätigkeit bekannt werden.
(4) Die Hebamme erhält für ihre Mühewaltung eine Entschädigung von 2 RM [Reichsmark]. [….]
(5) Der Amtsarzt hat die ihm erstattete Meldung auf die Vollständigkeit der Angaben zu prüfen und nach etwa erforderlicher Ergänzung […] unverzüglich an den Reichsausschuß zur wissenschaftlichen Erfassung von erb- und anlagebedingten schweren Leiden in Berlin […] weiterzuleiten […]

Aus: Jochen-Christoph Kaiser/Kurt Nowak/Michael Schwartz (Hg.): Eugenik, Sterilisation, »Euthanasie«. Politische Biologie in Deutschland 1895–1945. Eine Dokumentation, Berlin 1992, Dok. Nr. 184, S. 236f.
Viktor Brack über den »Reichsausschuß« (1947)

Dieser Ausschuß, welcher ebenfalls eine der Funktionen des Euthanasie-Programmes war, war eine Organisation zur Tötung von Kindern, welche geistig belastet oder körperlich mißgebildet geboren wurden. Alle ärzlichen Geburtshelfer, Hebammen oder Entbindungsanstalten erhielten durch das Innenministerium den Auftrag, derartige Fälle an das Amt Dr. Lindens im Innenministerium zu melden. Hierauf wurden Gutachter aus der ärztlichen Abteilung des Büros Dr. Brandts beauftragt, ihre Ansicht in jedem Falle einzuholen und das Schicksal eines jeden betroffenen Kindes zu entscheiden. In vielen Fällen sollten die Kinder auf solche Weise operiert werden, daß das Ergebnis entweder vollständige Heilung oder Tod war. In der Mehrzahl der Fälle war der Tod die Folge. Das Programm wurde etwa im Sommer 1939 eingeleitet.

Die Wandlung 2 (1947), S. 169f.
Bild: Städtische Nervenklinik für Kinder Wiesengrund, Berlin-Wittenau, 1942
Städtische Nervenklinik für Kinder Wiesengrund, Berlin-Wittenau, 1942
© Institut für Geschichte der Medizin und Ethik in der Medizin, Charité – Universitätsmedizin Berlin
Bild: Der letzte Brief von Emil W. aus der »Kinderfachabteilung« Kalmenhof bei Idstein , 11. Februar 1944, S. 1
Der letzte Brief von Emil W. aus der »Kinderfachabteilung« Kalmenhof bei Idstein , 11. Februar 1944, S. 1
© Hessisches Hauptstaatsarchiv Wiesbaden, Abt. 461 Nr. 31526/5
Bild: Der letzte Brief von Emil W., 11. Februar 1944, S. 2
Der letzte Brief von Emil W., 11. Februar 1944, S. 2
© Hessisches Hauptstaatsarchiv Wiesbaden, Abt. 461 Nr. 31526/5